Die französische Forschung zum 16. Jahrhundert und die deutsche Frühneuzeitforschung – beide ebenso traditionsreich wie in ihren institutionellen Voraussetzungen unterschiedlich – haben wenig Gelegenheit zu wechselseitigem Austausch, wenn auch die großen Forschungszentren zum 16. Jahrhundert (CESR in Tour und Herzog-August-Bibliothek in Wolfenbüttel v.a.) solchen Austausch fördern. Zwei gelungene cotutelles stehen am Anfang des hier vorgestellten Projekts einer wissenschaftlichen Zusammenarbeit zwischen der Universität Lille 3 (Maison des Sciences de l’Homme du Nord-Pas du Calais et équipe d’accueil ALITHILA) und dem Sonderforschungsbereich 573 der Ludwig-Maximilian-Universität in München.
Im Rahmen der gegenwärtigen Debatten über das kulturelle Gesicht Europas und über die Bedeutung der Sprachen als Basis einer Zivilisation planen wir ein zentrales Problem der europäischen Kulturgeschichte zu bearbeiten: Die Anfänge der Volkssprachen als elaborierte Kultursprachen und Sprachen der Wissenschaft, d.h. als Grundlage der kulturellen Konfigurationen, die inzwischen Anspruch auf allgemeine Geltung haben. Anstelle einer teleologischen Perspektive, die das Studium einer Einzelsprache ins Zentrum rücken würde, weil sie tatsächlich die Sprache der Leitkultur geworden ist, geht es darum Alternativen zu erforschen, wie sie andere Sprachen darstellen, die sich zur gleichen Zeit entwickeln, die zwischen dem 14. Jahrhundert (Anfang der italienischen Renaissance) und dem Anfang des 17. Jahrhunderts (den ‚Renaissancen’ in Deutschland und Holland) zu Hochsprachen ausgebildet werden und beanspruchen, für alle Sprachregister zur Verfügung zu stehen.
Die institutionellen Voraussetzungen des Projektes begünstigen einen Vergleich zwischen Frankreich und Deutschland. Doch versteht sich von selbst, dass die Konstellationen in diesen beiden Ländern nicht verstanden werden können, ohne dass man sie auf den breiteren europäischen Kontext bezieht. Deshalb soll ein Workshop am Montag, dem 10. März 2008, der an der Universität Lille stattfinden soll, als erstes sich um eine Skizze der unterschiedlichen sprachlichen Verhältnisse in der italienischen, der französischen, der spanischen, der deutschen, der schweizerischen und der niederländischen Renaissance bemühen, sowie die unterschiedlichen sprach- und literaturgeschichtlichen Traditionen in diesen Ländern diskutieren. Diese notwendigerweise vorläufige Vorklärung gestattet es, die fünf französischen und deutschen Fallstudien, über die dann gesprochen werden soll, besser einzuschätzen und mit anderen europäischen Verhältnissen zu konfrontieren. Ein zweites Seminar, das im Herbst 2008 in München stattfinden wird, soll den Vergleich zwischen Deutschland und Frankreich vertiefen und die Fallstudien auf Spanien, Italien, die Schweiz und die Niederlande ausdehnen. Dabei sollen die Hauptgesichtspunkte der gemeinsam geplanten Forschungsarbeit festgelegt, Bilanz gezogen und die Vorgehensweise für eine längerfristige Zusammenarbeit bestimmt werden. Diese soll der Gegenstand eines Forschungsprojektes (2009-2012) sein, dessen Finanzierung wir bei der Agence Nationale de la Recherche und der Deutschen Forschungsgemeinschaft beantragen wollen. Gegebenenfalls müsste das Projekt im Januar 2009 abgeschlossen werden.
Die fortdauernde Führungsrolle des Latein im Europa der Renaissance als Verkehrssprache, als Sprache der Diplomatie, als Kultursprache im weitesten Sinne, ob in der Theologie oder der Philosophie, der Jurisprudenz oder der Natur- und Technikwissenschaften ist bekannt. Was die Literatur betrifft, vor allem die Poesie, gewinnt die lateinische Sprache bei den Humanisten erneut an Prestige. Vor allen Dingen in Italien und Frankreich bemühen sich aber dieselben Humanisten im Rahmen planmäßiger imitatio ebenso darum, wenn auch zeitverzögert, die jeweiligen Volkssprachen, am Vorbild des Latein zu schulen, an seinem stilistischen Anspruch auszurichten und ihnen ein gleiches Ansehen zu verschaffen. In Deutschland bleibt zunächst im 16. Jahrhundert Latein die wichtigste Literatursprache, die auf einigen Feldern sogar das dort bislang vorherrschende Deutsch verdrängt. Ausgebaut wird das Deutsche vornehmlich als Sprache des reformatorischen Glaubens.
Wenig hat man sich bisher um parallele Bemühungen in anderen Volkssprachen gekümmert, ihrerseits zur Kultur- und Wissenssprache aufzusteigen. In dieser Hinsicht ist die Lage in den einzelnen Ländern sehr unterschiedlich. Frankreich, zentralisierte Monarchie seit Philippe le Bel, ist ohne Zweifel in einer günstigen Lage, indem eine einzige nationale Volkssprache tatsächlich seit langem die regionalen Sprachen dominiert und unter Franz I. zur Staatssprache wird. Sogar die Provençalen, die doch erst vor kurzer Zeit integriert worden waren, benutzen das Provençalische nur selten, und dann vor allem für makkaronische Spiele wie die von Arena. Das mundartliche Bretonisch wird verspottet und ist nie Basis einer Schriftkultur. Die Opposition einer anderen südlichen Regionalsprache, des Gascognischen gegen jenes Französisch, kann sich nur dank dem „Béarnaisen“ Heinrich IV. Geltung verschaffen.
Dagegen ist die Situation in Italien durch die große Zahl der Regionalsprachen und den Konflikt zwischen ihnen charakterisiert. Latein als die Sprache, aus der diese Regionalsprachen hervorgegangen sind, ist direkt ererbt vom Römischen Reich und von den Päpsten als Amtssprache übernommen, aber es ist nicht mehr Muttersprache. Die Volkssprache oder besser die Volkssprachen haben sehr früh durch die Werke von Dante, Petrarca und Boccaccio hohes Prestige gewonnen, aber es gibt noch keine gemeinsprachliche Norm, und die Volkssprache wird weder in philosophischen noch in wissenschaftlichen Schriften verwendet. In Süditalien ist das Griechische weiter eine lebendige Sprache, und mit den aus dem griechischen Byzanz vertriebenen Gelehrten wird es seit dem 14. Jahrhundert zu einer Sprache, die jeder Intellektuelle kennen muss. Die Diglossie von Latein und Volkssprache als Kultursprachen, manchmal sogar die Triglossie ist also ein typisch italienisches Phänomen. Hier hat der Vergleich und die Konkurrenz von Sprachen ein philologisches Bewusstsein zur Folge, das erst sehr viel später im übrigen Europa entsteht.
Auch in Deutschland ist die Konkurrenz regionaler Kultursprachen viel ausgeprägter als die spätere Entwicklung vermuten lässt. Zu diesem gehört im 16. Jahrhundert noch das Niederdeutsche, das als Hochsprache im Laufe der frühen Neuzeit verschwindet. Die Arbeiten von Dieter Breuer haben – in Konkurrenz zum vorherrschenden Interesse an den protestantischen Ländern – die Bahn für eine Erforschung der Sprache, der Literatur und der Kultur in den katholisch verbliebenen Gebieten Oberdeutschlands eröffnet. Diese Arbeiten müssten auf andere Regionen des Reichs ausgedehnt werden, katholische wie reformierte. Besonderes Interesse für das Projekt hat die Kultur des Südwestens, die enge Verbindungen mit den benachbarten Ländern, insbesondere Frankreich, aufrecht erhält. Auch sie verschwindet nahezu vollständig im letzten Drittel des 17. Jahrhunderts. Mit ihr verschwindet eine Alternative zur protestantisch-mitteldeutschen ‚Leitkultur’, die, eng an der Bibel und religiöser Unterweisung ausgerichtet, in den Städten Mitteldeutschlands entstanden ist und die trotz einiger Gegenbewegungen letztlich die prägende Kraft der Kultur in ganz Deutschland zu Ende der frühen Neuzeit wird.
Jenseits der unterschiedlichen Ausgangsbedingungen, die man natürlich in Anschlag bringen muss, wäre zu fragen, ob es Verwandtschaft oder Parallelen zwischen den ersten Anfängen der unterschiedlichen Volkssprachen gibt. Im Vergleich wäre zu untersuchen, wie in der Romania – in Italien, in Spanien und in Frankreich – eine dominierende Kultur- und Wissenssprache experimentell erprobt und entwickelt wird in der Gegenüberstellung mit anderen Dialekten, anderen Sprachen, und v.a. dem Latein. Wie verhält es sich im Vergleich dazu mit den Volkssprachen in Deutschland und den Niederlanden, die sich nicht in der selben Weise auf eine direkte Verbindung mit dem Latein berufen können? Außerdem – und das wurde bisher kaum untersucht und schon gar nicht in vergleichender Perspektive – kann man sich fragen, ob bestimmte bereits ausgebaute Volkssprachen eine Art Mittlerrolle beim Ausbau anderer Sprachen als Literatur- und Wissenschaftssprachen gespielt haben: Das Italienische z.B. für Spanien und offensichtlich Frankreich, das Französische für England, Deutschland und die Niederlande und in gewissen Hinsichten sogar für Italien selbst.
In dieser Perspektive sind Übersetzungen (aus dem Lateinischen wie aus einer anderen Volkssprache) ein bevorzugtes Feld für den Ausbau der Sprache, denn hier kann man besonders deutlich die Verfahren der Adaptation oder Assimilation einer Kultur an eine andere beobachten, manchmal durch den gleichen Autor. Die deutschen Übersetzungen, die den Austausch zwischen Deutschland und West- und Südeuropa dokumentieren, sind bisher nicht Gegenstand vertiefter Untersuchungen geworden, da sie immer als unoriginell in den Augen einer Literaturgeschichtsschreibung erschienen, die durch den Geniekult des 18. Jahrhunderts geprägt wurde. Tatsächlich verweisen gerade die Übersetzungen auf das gemeinsame Fundament einer europäischen Kultur in den ersten Jahrhunderten der frühen Neuzeit, und sie tun es selbst dort, wo die deutsche Adaptation nur unvollkommen gelungen ist.
Die vergleichende Untersuchung anderer volkssprachiger Texte (in Prosa oder in Vers), aus Geschichte und Politik, Wissenschaften und schöner Literatur, wird gleichfalls zur Frage nach den Fundamenten und dem kulturellen Erbe jeder einzelnen Sprache führen, v.a. auch nach dem jeweiligen mittelalterlichen Erbe: Wie hat eine volkssprachige Kultur, die beansprucht Basis des Wissens und der Kultur des Humanismus zu sein, dieses Erbe erneuert, wie sich von ihm befreit, wie bleibt sie von ihm geprägt, wie spielt sie mit ihm? Diese Frage stellt sich insbesondere in Bezug auf Deutschland, das im Vergleich mit Italien und Frankreich eher zurückgeblieben scheint
Es galt einen Punkt zu finden, von dem aus man sich den Phänomenen nähern kann. Wir würden als Arbeitshypothese unterstellen, dass es bestimmte historische Konstellationen gibt, Orte, an denen sich auf besonders aktive, überlegte und programmatische Weise eine Volkssprache entwickelt, die beansprucht, dominierende Kultursprache zu werden. Man könnte diese Orte als eine Art von Laboratorien der Sprache verstehen, einer Hochsprache für eine Oberschichten- oder eine Gelehrtenkultur, manchmal für beide: Fürstliche Höfe, Offizinen, Städte, Handelszentren, humanistische Netzwerke, sowohl informelle wie solche, die sich zu Sodalitäten verdichten, nicht-universitäre Bildungszentren. Der Begriff des Laboratoriums setzt eine gemeinsame Erfahrung voraus, das Experimentieren einer Gruppe (man kann z. B. etwas dieser Art dauernd in Lyon in den ersten Jahrzehnten des 16. Jahrhunderts feststellen), und die dauernde Auseinandersetzung – manchmal spielerisch wie bei Rabelais – mit anderen möglichen Sprachen. Neben anderen möglichen Ergebnissen könnte der Begriff des Sprachlaboratoriums eine fruchtbare Alternative zu anderen Konzepten bieten, wie z.B. zu dem umstrittenen Konzept einer Vielzahl von ‚Dichterschulen’, so auf der iberischen Halbinsel im 16. Jahrhundert, aus denen sich dann die rivalisierenden Schulen von Salamanca bzw. Sevilla herauslösen. In Italien, wo die Literaturgeschichtsschreibung sich vor allen Dingen auf die politischen Folgen der questione della lingua konzentriert hat, könnte der Begriff vielleicht stärker die philosophischen Implikationen in den Blick rücken. In Deutschland könnte die scheinbar folgenlose Kultur Südwestdeutschlands auf ihre soziale und institutionelle Basis bezogen werden. Dies würde vielleicht auch literarhistorischen Tendenzen wieder ihr Gewicht verleihen, die in gewisser Weise der historischen Entwicklung zum Opfer fielen, etwa manchen deutschsprachigen Autoren, die dem Dichter und Theoretiker Martin Opitz vorausgingen und eine Art von Gegenkanon der deutschen Literatur entwarfen.
Grundsätzlich würden wir diese Hypothese für den gesamten oben skizzierten geographischen Raum erproben wollen, jedoch gegebenenfalls die Analysen dann auf bestimmte besonders ausgezeichnete ‚Laboratorien’ konzentrieren, wobei wir vor allem an die Reichsstadt Straßburg, den kurfürstlichen Hof in Heidelberg oder das geistige Zentrum Lyon denken, dessen Funktion als ‚Schmelztiegel’ bereits in einer der thèse de doctorat erwiesen wurde.
Indem die wechselseitigen Kenntnisse und literaturgeschichtlichen Traditionen aufeinander bezogen werden, hoffen wir die Grundlagen für ein größeres Forschungsunternehmen zu legen, das Gegenstand eines Förderungsantrags bei der ANR bzw. der DFG im Januar 2009 sein könnte.